Strufus wildert in Landgraf Philipps Wald
von Heike Friedrich
Pfarrer Victor Kramm war noch ganz in Gedanken. Er saß mit seinem Knecht, dem Hofmann Karl, auf der Bank seines Ochsengespannes und grübelte über das Gespräch mit seinem Amtskollegen aus Veckerhagen nach. Pfarrer Kramm philosophierte liebend gern über Gott und die Welt. Einmal im Monat machte er sich auf den Weg nach Veckerhagen, denn mit niemandem sonst konnte er angeregter diskutieren als mit seinem Amtskollegen und Freund, Ferdinand Borner. Heute sprachen die beiden bei einem ausgedehnten Mahl über Landgraf Philipps Günstling Martin Luther und dem vor einigen Jahren verstorbenen Freigeist Mutianus Rufus, der weder die katholische Kirche akzeptierte noch sich mit den Ansichten Luthers identifizieren konnte. Dieses revolutionäre Gedankengut von Rufus kam Pfarrer Kramms Meinung nach einem schweren Verbrechen gleich. Daher erschrak er umso mehr als plötzlich auf Höhe der Lempedickte ein Mann aus dem Dickicht hervorsprang und mit der Büchse auf ihn zielte. „Na, wen haben wir denn da?“, sprach der Unbekannte. „Wenn das mal nicht der Pfaffe Kramm ist. Gehörst du nicht auch zu Landgraf Philipps Lumpengesellen, die den Bauern das Leben mit ihren Gesetzen schwer machen? Ist es nicht schon schlimm genug, dass der Landesfürst das Wild höher achtet als den Mensch, dass du die Hombresser auch noch mit deinem Pfaffengeschwätz herumkommandierst?“ „Und du“, sprach der Pfarrer, „wer bist du, dass du mir hier auflauerst? Hörst du etwa auf den fehlgeleiteten Spinner Rufus, der glaubte, das Leben nach seinen eigenen Regeln führen zu können anstatt sich der Obrigkeit zu beugen?“ „Wer ich bin tut hier nichts zur Sache, aber eines ist gewiss:
Niemandem Herr und niemandem Knecht,
so ist mein Sinn für Freiheit und Recht.
Und glaub mir Pfaffe, man wird noch von mir hören“, sprach`s und war wieder im Wald verschwunden. Starr vor Schreck, hatte sich der Hofmann Karl kein Stück auf dem Bock bewegt. Aber was er soeben gehört und gesehen hatte, gefiel ihm wohl. Zwar bot der Unbekannte schon einen fürchterlichen Anblick mit seinem struppigen schwarzen Bart und seiner hohen, breiten Gestalt. Einzig der große, mit silbernen und goldenen Platten beschlagene Gürtel passte so gar nicht zu seiner Erscheinung. Aber so freute er sich doch, dass es sich jemand getraute, dem Pfarrer den Marsch zu blasen und das Unrecht, das Landgraf Philipp mit seiner Forst- und Jagdordnung aus dem Jahr 1532 über die Bauern gebracht hatte, laut auszusprechen. Er hatte nicht so recht verstanden, was der Pfarrer mit diesem Rufus gemeint hatte, aber solange er nicht wusste, wie der Unbekannte hieß, so wollte er in Hombressen erzählen, sie hätten auf der Lempedickte einen Mann namens Strufus getroffen, der sich einen Scheiß um Philipp und die Kirche scherte.
Pfarrer Kramm aber lamentierte den ganzen Weg bis ins Dorf, dass er sofort den Forstmann Fehsel zu sich bestellen müsse, der diesen unverschämten Kerl dingfest machen soll. Selbstverständlich stimmte der Karl dem Pfarrer pflichtbeflissen zu, frohlockte aber innerlich, dass diesem Strufus wohl nicht so einfach beizukommen sei.
In Hombressen angekommen setzte er den Pfarrer am Kirchhaus ab und spannte dann den Ochsen im Stall ab. Noch immer kreisten seine Gedanken um den Vorfall im Wald und er entschied sogleich, seinem Freund, dem Herbold Heiner, davon zu erzählen. Die beiden waren bereits seit Kindertagen befreundet und hatten in der Vergangenheit schon das ein oder andere Mal den häuslichen Vorratskeller mit einem Hasen oder ein paar Wildenten aufgefüllt, die sie in Landgraf Philipps Wald erbeutet hatten. Seit der Landesfürst jedoch die Strafen für Wilderei in den letzten Jahren nochmals verschärft hatte, getrauten sie sich nicht mehr. Hatte er doch erst kürzlich Balthasar Feine aus Gottsbüren wegen Wilddiebstahl verhaften und ihm durch den Scharfrichter mit einem glühenden Eisen ein Hirschhorn als Kennzeichen der Wilddiebe vor die Stirn brennen lassen. „Meinst du, der Kerl haust hier irgendwo im Wald?“, meinte der Heiner, nachdem der Hofmann Karl ihm von der Begegnung berichtet hatte. „Wer weiß das schon, wir werden sehen, ob er sich noch mal blicken lässt.“
Zwei Tage später erzählte eine alte Frau aus dem Dorf, dass sie an ihrer Hintertür eine in Ledertuch eingeschlagene Wildschweinkeule gefunden habe. Tags darauf entdeckte der kranke Müller einen Hirschbraten vor seiner Tür und die Zwillinge der Witwe Geule fanden zwei gehäutete Hasen auf ihrer Kellertreppe. Da sich die Geschichte mit dem Pfarrer und dem Unbekannten, den alle Strufus nannten, schnell unter den Hombressern herumgesprochen hatte, war dieser in aller Munde. Das passte dem Pfarrer so gar nicht und er beschloss alsbald den Forstmann Fehsel im Forsthaus auf dem Ruschenhagen aufzusuchen.
„Was ist das für eine Schweinerei, dass uns dieser Kerl vor aller Augen zum Narren hält?“, polterte der Pfarrer. „Wir müssen diesem Wilderer Einhalt gebieten und somit wieder für Recht und Ordnung im Dorf sorgen. In zwei Wochen kommt Landgraf Philipp wieder einmal zur Jagd nach Hombressen. Bis dahin müssen wir diesen Aufrührer dingfest gemacht haben.“ Und als die beiden noch so beratschlagten, wie das wohl zu bewerkstelligen sei, knallte ein Schuss aus dem nahen Wald. „Dieser verdammte Spießgeselle. Gleich morgen versammele ich meine Leute und dann werden wir dem Treiben ein Ende setzen.“ So geschah es, dass sich die Forstleute aus Immenhausen, Gottsbüren und der ganzen Gegend am Forsthaus Waldhaus versammelten. Auch sie hatten schon von Strufus gehört, der Notleidenden aus Hombressen gewilderte Leckereien aus dem Wald vor die Türe legte. So begaben sich dann um die zwanzig Mann auf die Suche nach Strufus. Sie durchforsteten das Gebiet zwischen dem Ruschenhagen und dem Udenhäuser Stock. Aber immer, wenn sie einer Gestalt ansichtig wurden, verschwand diese im Unterholz und sie konnten seiner nicht habhaft werden. Es war wie verhext; immer wenn sie glaubten, ihn umkreist zu haben, schien der Wilderer plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Was die Forstleute nicht wussten war, dass Strufus einen Gürtel besaß, der ihn unsichtbar machte. Der Gürtel war mit goldenen und silbernen Platten beschlagen. Sobald Strufus seinen rechten Daumen auf eine goldenen Platte und den linken Daumen auf eine silberne Platte legte, konnte er von niemandem mehr gesehen werden, sofern sich der Zweig eines Baumes über sein Haupt reckte. Legte er den rechten Daumen auf eine silberne und den linken auf eine goldene Platte, konnte er sich sogar auf einer Lichtung in einen Baum verwandeln. So irrten die Forstleute den ganzen Tag hin und her und Strufus hatte seinen Spaß mit ihnen.
Es sprach sich natürlich schnell in Hombressen und weit über dessen Grenzen hinaus herum, dass Strufus nicht zu fassen sei. Wenn die Hombresser am Abend gemütlich in ihren Stuben beisammen saßen, so stimmten sie gern das Lied an, dass sich der Hofmann Karl zu Ehren von Strufus ersonnen hatte:
Wer schleicht durch die nächtliche Stille
so einsam und wildernd umher
und hält zu seiner Rechten
so krampfhaft fest sein Gewehr?
Da tritt aus dem nahen Gebüsche
ein stolzer Hirsch hervor,
er wittert nach allen vier Seiten,
hebt stolz sein Geweih empor.
Halt, Wilddieb, hernieder die Büchse,
so schallt es von drüben her.
Doch Strufus verschwand hinterm Baume,
der Förster, der sah ihn nie mehr.
So erzählten sich die Hombresser täglich neue Geschichten von ihrem Strufus. Daher sahen sie dann auch dem Besuch von Landgraf Philipp und seiner Jagdgesellschaft mit einer gewissen Gelassenheit entgegen. Was scherten die Hombresser die Jagdgesetze, wo sie doch ihren Strufus hatten. An einem Samstagmorgen im November 1558 traf er also ein, der Landgraf Philipp mit seinem Jagdtross. In der Gemarkung um die Zapfenburg hatte er bereit 93 Wildschweine, 27 Hasen, 45 Rehe und 115 Wildenten erlegt. Bei den Wildenteichen wollte er nun einen 12-Ender schießen, der als Krönung die fürstliche Jagd beschließen sollte. Auf der Lichtung am Siebenborn wurde ihm dann endlich von den Treibern das Tier zugeführt. Da stand er nun, der imposante Hirsch und reckte dem Landesfürst sein Geweih stolz entgegen. Philipp legte an und ein Schuss knallte durch die Luft. Der Hirsch sank zu Boden, aber die Kugel steckte noch in Landgraf Philipps Büchse. Strufus hatte den Hirsch niedergestreckt. Welch eine Schmach für Philipp, er tobte vor Wut. Forstmann Fehsel sandte seine Leute aus, um den Wilderer zu stellen, damit Strufus alsbald an dem Galgen an der alten Steineiche auf dem Gringel aufgehängt werden konnte. So sehr sich Forstmann Fehsel und die Leute des Landgrafen auch abmühten, sie konnten Strufus nicht fassen. Landgraf Philipp aber verließ sogleich die Gemarkung und kehrte zu Lebzeiten nie mehr nach Hombressen zurück, worüber in Hombressen nur der Pfarrer Kramm unglücklich war. Die Hombresser selbst verehren ihren Strufus bis heute. Viele Geschichten können an dieser Stelle noch über Strufus erzählt werden. Ein jeder Hombresser weiß jedoch über ihn zu sagen:
Niemandem Herr und niemandem Knecht,
so war auch Strufus Art,
ein hoher Sinn für Freiheit und Recht,
mit hilfreichem Herzen gepaart!